Transsexualität als Krankheit RVO §§ 182 II, 184 I Zum Krankenpflegeanspruch bei Transsexualität. BSG, Urteil vom 06-08-1987 - 3 RK 15/86 (Celle) Zum Sachverhalt: Zwischen den Bet. ist streitig, ob die bekl. Ersatzkasse verpflichtet ist, der Kl. die Kosten einer sogenannten geschlechtsumwandelnden Operation zu bezahlen. Die Kl., die bei der Bekl. pflichtversichert ist, hat sich im Februar/ März 1982 als bisheriger „Mann“ einer Operation unterzogen, durch die ihre äußeren männlichen Geschlechtsmerkmale beseitigt und eine Angleichung an die weiblichen vorgenommen wurde. Die Bekl. hat denAntrag auf Übernahme der Kosten abgelehnt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, daß vor der Operation kein regelwidriger Körperzustand vorgelegen habe, der geheilt, gelindert oder vor einer Verschlimmerung hätte bewahrt werden müssen. Das SG hat der Klage stattgegeben. Das LSG hat die Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Ihre Revision hatte keinen Erfolg. Aus den Gründen: ... II. ... Die Kl. hat einen Anspruch auf die streitige Leistung dann, wenn ihr damaliger psychophysischer Zustand rechtlich als behandlungsbedürftige Krankheit i. S. der §§ 182 II, 184 I RVO zu gelten hat. Das LSG hat den Rechtsbegriff der Krankheit nicht verkannt. Es brauchte insoweit nur zu prüfen, ob bei dem als Transsexualität zu beschreibenden Zustand der Kl. die innere Spannung zwischen ihrem körperlich männlichen Geschlecht und ihrer seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht eine derartige Ausprägung erfahren hat, daß eine Krankheit im Sinne der genannten Vorschriften anzunehmen war. Das hat das LSG ohne Rechtsverstoß bejaht. Es ist dabei von einem Krankheitsbegriff ausgegangen, bei dem nicht nur auf das Bestehen eines regelwidrigen, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichenden Körper- oder Geisteszustand abgestellt wird, nämlich darauf, ob der Versicherte zur Ausübung der normalen psychophysischen Funktionen in der Lage ist oder nicht (BSGE 35, 10 (12) = NJW 1973, 582; BSGE 39, 167 (168) = NJW 1975, 2267; jeweils m. w. Nachw.), sondern darüber hinaus ein Leidensdruck gefordert wird, durch den sich die Regelwidrigkeit erst zur eigentlichen Krankheit im Sinne der genannten Gesetzesbestimmungen qualifiziert. Das ist hier rechtlich deswegen zu fordern, weil es, wie das LSG unangegriffen festgestellt hat, Erscheinungsformen der Transsexualität gibt, die, was die Gebrochenheit des geschlechtsspezifischen Identitätsbewußtseins anlangt, zwar als Anomalie - in dem aufgezeigten Sinne - zu gelten haben, aber doch nach natürlicher Betrachtungsweise damals als Krankheit angesehen werden können. Unter diesen Voraussetzungen hat das LSG, indem es nicht jeder Art der Transsexualität einen Krankheitswert beimaß, mit Recht gefolgert, daß es auf den Einzelfall ankomme, ob dies zutrifft. Das LSG hat festgestellt, daß die Kl. (aufgrund der obengenannten transsexuellen Spannungen) unter einem schweren Leidensdruck und vor der Operation unter extrem hoher Selbstmordgefahr gestanden habe ... Indem das BerGer. diese konkrete Situation der Kl. unter den Krankheitsbegriff subsumierte, hat es diesen (Rechts-) Begriff nicht verkannt. Die Bekl. hat dies auch gar nicht gerügt. Ihr Revisionsvorbringen richtet sich - genau betrachtet - nicht dagegen, daß das LSG den geschilderten Zustand der Kl. als Krankheit i. S. der §§ 182, 184 RVO, sondern nur dagegen, daß es die vorgenommene Operation als gesetzliche Leistung angesehen hat. Aber auch insoweit ist kein Rechtsverstoß ersichtlich. Der Krankenpflegeanspruch setzt u. a. voraus, daß die Krankheit einer Behandlung im Sinne der Diagnoseerstellung bzw. der Heilung, Linderung oder der Verhütung einer Verschlimmerung zugänglich ist (= Behandlungsbedürftigkeit; vgl. BSGE 59, 116 (117)). Das LSG hat insoweit festgestellt, daß bei der Kl. eine Indikation zur geschlechtsangleichenden Operation als einzigem Mittel, um eine Linderung herbeizuführen, vorgelegen habe, nachdem alle psychiatrischen und psychotherapeutischen Mittel erfolglos gewesen seien. Diese Feststellungen hat die Bekl. nicht durch Verfahrensrügen angegriffen, so daß auch sie für das Revisionsgericht bindend sind. Aber auch ein materiellrechtlicher Fehler - durch die Bejahung der Behandlungsbedürftigkeit im Sinne der hier streitigen Operation - liegt nicht vor. Das LSG ist mit Recht davon ausgegangen, daß eine Linderung des krankhaften Leidensdruckes durch die streitige Operation als anspruchsbegründender Umstand in dem Sinne ausreicht, als diese Operation nicht eine Heilung erwarten zu lassen brauchte. Es hat sich dann in freier, vom RevGer. grundsätzlich nicht überprüfbarer Beweiswürdigung davon überzeugen lassen, daß eine solche Linderung durch die streitige Behandlung wahrscheinlich sei. Zwar hätte es möglicherweise den im Begriff der Behandlungsbedürftigkeit mit eingeschlossenen Begriff der Zweckmäßigkeit der Behandlung verkannt, wenn es bei der hier vorliegenden Krankheit nicht eine gewisse Vorrangigkeit psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung mit erwogen hätte. Dies hat es aber mit seiner Feststellung, daß solche Behandlungen alle erfolglos gewesen seien, ausdrücklich getan; auch insoweit hat die Bekl. keine Rüge erhoben. Wenn das LSG sich aber dann hat davon überzeugen lassen, daß eine Linderung trotz jener Vorrangigkeit auch durch eine geschlechtsanpassende - also physische - Operation möglich und retrospektiv gesehen tatsächlich erfolgt sei, so unterlag auch diese Feststellung seiner freien, von der Bekl. verfahrensrechtlich nicht gerügten Beweiswürdigung.