Bei der Betrachtung von Themen, die mit zahlreichen Interpretationen, Thesen und Theorien überladen sind, wie das bei Transsexualität der Fall ist, lohnt es sicher immer, einen Versuch zu wagen, sich auf das was unstrittig ist zu reduzieren. Das kann helfen, "Realität" und "Phantasie" zu unterscheiden.
Es gab mal ein Lied von DAF, dessen Text ich dem ersten Konzept dieses Artikels voranstellen will.
Ich und ich im wirklichen Leben.
Ich und ich in der Wirklichkeit.
Ich und ich in der echten Welt.
Ich und ich.
Ich fuehle mich so seltsam.
Die Wirklichkeit kommt. Die Wirklichkeit kommt.
(DAF 1981)
Es gibt unterschiedliche psychologische Schulen, die sich (wie schon die alten Griechen) gefragt haben: Was ist das eigentlich, ein "Ich"? C.G. Jung, der Begründer der analytischen Psychologie (nicht zu verwechseln mit der Psychoanalyse, die Sigmund Freud einst erfunden hat) unterschied hier zwischen dem "Selbst" und dem Ich", das "Selbst" als Wesenskern des Menschen und dem "Ich" als Zentrum des Bewusstseins.
Zum Selbst:
"Im Zentrum seiner Persönlichkeitspsychologie steht das Selbst und die Individuation, die Entwicklung des Menschen auf ein erweitertes Bewusstsein, eine größere humanitäre Reife und soziale Verantwortlichkeit hin. Im Individuationsprozess soll der Mensch zu dem werden, der er von seinen Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten her ist."
(Quelle: C.G. Jung Institut Stuttgart)
Zum Ich:
"Der zentrale Begriff der menschlichen Psyche ist das Selbst. Dieses Selbst ist die Ganzheit der menschlichen Psyche und umfaßt bewußte und unbewußte Persönlichkeitsteile und strebt eine Harmonisierung der Psyche an. Bewußt ist lediglich das Ich-Bewußtsein und ist somit lediglich ein winziger Teil dessen, was die menschliche Persönlichkeit ausmacht."
(Quelle: Werner Stangls Arbeitsblätter)
Das "Selbst" des Menschen sei also der "natürliche" Teil des Menschen, das "Ich" der Teil, der sich in kulturellen und sozialen Kontexten bewegt, quasi die geistige "Kleidung" des Menschen.
Obwohl die Jungsche Weltanschauung auch nur eine Theorie ist, so erscheint sie mir zumindest als passend genug, um der Wirklichkeit ein Stück näher kommen zu können. Nur Geduld, ich werde später noch darauf kommen, dass auch die Jungsche Weltanschauung nicht nötig ist, um Transsexualität zu begreifen - ich werde nämlich jetzt erst einmal versuchen zwei neue Begriffe hinzuzufügen, um diese dann geschickt mit der analytischen Psychologie zu verbinden. Diese Begriffe nennen sich "sex" und "gender" und tauchten hier ja bereits schon öfters auf.
Sex:
"Sex" wird das biologische Geschlecht genannt. Das biologische Geschlecht wird zur Zeit noch über das Vorhandensein von entweder Ei oder Spermien definiert. Das "noch" in dem vorangegangenen Satz steht da deswegen, da ich diese Einteilung in seiner Absolutheit nicht als sinnvoll erachte. Alles das in der Wissenschaft "entdeckt" wird, jede Beobachtung die gemacht wird muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass dazu immer auch die Ausnahmen gehören. Im Jahr 2010 lag die Entdeckung der Spermatozoiden übrigens erst 333 Jahre zurück, die menschliche Ei-Zelle ist erst viel später entdeckt worden.
Nun ist bekannt, dass das so simpel erscheinende "sex" dann etwas komplexer wird, wenn mensch sich nicht nur auf Ei- und Samenzellen beschränkt, sondern auch andere Merkmale betrachtet. Gameten, Genitalien, Chromosomen, Hormone, Körperproportionen, usw. sind tatsächlich nicht immer "gleichgepolt" und können auch in allen Zwischentönen auftauchen. Berücksichtigt mensch, dass bereits bewiesen wurde, dass auch
das menschliche Gehirn geschlechtliche Unterschiede aufweist, und es zugleich das wichtigste menschliche Organ darstellt, dann wäre der "sex"-Faktor der am wichtigsten ist, eben biologisch gesehen eindeutig das Gehirn des Menschen.
Das Gehirn wäre also die biologische Seite dessen, was Jung als "das Selbst" bezeichnet hat. Es ist das, was ist.
Gender:
"Gender" beschreibt in erster Linie die Geschlechtszuschreibung bzw. das "soziale Geschlecht" des Menschen. In den 70er-Jahren entwickelte John Money aus Baltimore die Theorie, dass dieses "soziale Geschlecht" das eigentlich entscheidende Geschlechtskriterium wäre und man einen Menschen nur richtig erziehen müsse, um ihm die eine oder andere "Geschlechtsidentität" zu ermöglichen. Unabhängig des biologischen "sex" wäre es (so die These) möglich, einen Mensch entweder in der einen oder in der anderen Geschlechtsrolle "Mann/Frau" zu erziehen.
Die Begriffe "Mann/Frau" die wir verwenden und als quasi "naturgegeben" betrachten, sind alles andere als dies: Vor ein paar hundert Jahren noch wurde mit "Frau" beispielsweise nicht jede Frau als "Frau" (frouwa) bezeichnet, sondern nur ein vermeintlich weiblicher Mensch gesellschaftlich höheren Ranges. Strengenommen kann daher ein Mensch auch nicht als "Frau" geboren werden (auch wenn ich das provokanterweise selbst so oft sage), sondern eine "Frau" wirst du per Zuordnung oder mittels Selbstzuordnung.
Die Selbst-Zuordnung wäre damit das, was Jung als "das Ich" bezeichnet hat. Es ist die Hülle, die Performance des eigenen Selbst.
Was ist nun Transsexualität in Wirklichkeit? Was in der Realität?
Der Begriff "Wirklichkeit" ist ein Wort, das von "wirken" kommt, also eine Handlung voraussetzt. Frau-Sein kann also eine Wirklichkeit sein, wenn eine "gender"-role wahrgenommen und gelebt wird. "Realität", oder Echtheit ist das, was auch ausserhalb des Denkens und unabhängig von Wünschen und Gefühlen existiert. Es existiert etwas, auch wenn wir uns diesem oft nicht bewusst sind. Existieren transsexuelle Menschen in der "Realität", sind sie "echt"?
Hier möchte ich nun den Bereich der Weltanschauungen verlassen und mich auf wesentliches im Zusammenhang mit Transsexualität beschränken. Folgende Aussagen können meiner Ansicht nach getroffen werden (da sie beweisbar sind):
1. Es gibt Menschen, die von sich sagen, dass sie sich mit der zugewiesenen Geschlechtsrolle (gender) falsch beschrieben sehen.
2. Es gibt
Untersuchungen über Gehirne transsexueller Menschen, die zeigen, dass diese den Gehirnen der Gruppe der Menschen entsprechen, von der die untersuchten transsexuellen Menschen sagen, dass sie dieser Gruppe eigentlich angehören.
3. Es gibt nicht einen biologischen Geschlechtsfaktor, sondern viele. Welcher im Aussen als bestimmend gilt, ist kultur- und zeitabhängig - im Innen steht er fest.
Somit kann gesagt werden, dass transsexuelle Menschen echt sind (der Beweis ist ja längst erbracht worden) und in der Realität vorkommen. Ob sie allerdings in der Wirklichkeit existieren dürfen, hängt von der kulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft ab, und nicht unwesentlich oder sogar vorallem vom Selbstbewusstsein transsexueller Menschen.
Was genauso gesagt werden kann ist, dass es zwar Menschen gibt, die unter ihrer zugewiesenen Geschlechtsrolle (gender) leiden, dass es aber niemals Menschen geben kann, die eine "gender incongruence" oder "gender variance" besitzen, da eben eine Abweichung zu einer Erfindung (gender) in Realität überhaupt keine ist. Und daraus abgeleitet kann es auch keine transgender-Menschen geben, auch wenn ein Mensch sich einer Gruppe zuordnen kann, die sich "transgender" nennt. Oder um es an einem Beispiel aufzuzeigen: Ich kann zwar als ein in Deutschland lebender Mensch sagen, ich bin "deutsch". Es wird aber kaum möglich sein zu sagen, ich bin ein "deutscher Mensch". Denn deutsche Menschen gibt es (genauso wie transgender-Menschen) in der Realität nicht (auch wenn das in dunklen Zeiten des vorherigen Jahrhunderts mal ein paar in Deutschland lebende Menschen anders propagiert hatten).
Demgegenüber existiert aber das Phänomen der geschlechtlichen biologischen Abweichungen. Will ich den Zustand eines Menschen beschreiben, dessen Gehirn z.B. eher "weiblich" ausgeprägt ist, der restliche Körper aber davon abweicht, dann kann ich ihn transsexuell nennen. Beziehe ich mich auf diese in der Natur vorkommende Geschlechtsvariante kann ich sagen: Es ist ein transsexueller Mensch.
Schlussfolgerung:
Der Emanzipationsschritt eines transsexuellen Menschen, sich die richtige Bezeichnung zu geben und damit selbst die richtige Zuschreibung einzufordern, lässt sich übrigens transgender nennen, da ja z.B. die Wortänderung von "Frau" zu "Mann" bzw. einer Fremd- zu einer Selbstzuweisung eine Änderung des gender-Markers bedeutet. Durch diesen kleinen "Reprint" (der dann z.B. bei einer transsexuellen Frau auch die Aussage "Ich bin eine Frau" zu einer richtigen macht) wird das Leben eines transsexuellen Menschen schlüssig. Derjenige, der "Transsexuell" und "Transgender" nur als Etikett für unterschiedliche Menschengruppen verwendet, macht also einen grossen Fehler, da beide Worte vielmehr unterschiedliche "Seiten der Medaille" dessen beschreiben, mit der wir als kulturell geformte aber auch biologisch existente Lebewesen tagtäglich umgehen müssen.
Letztendlich hat also etwas, das sich beispielsweise "trans-pride" nennen will, primär nichts damit zu tun, dass ein Mensch ein Recht auf körperliche Modifikationen hat (als Recht gibt es dies ja), sondern hat vielmehr lediglich damit zu tun, sich selbst die richtige Zuweisung zu geben und dafür auch von anderen anerkannt und respektiert zu werden. Diese selbstbewusste Aussage über das eigene, existente transsexuelle Selbst ist der Schlüssel für "alles, was danach kommt"; je deutliche die Aussage ist, desto deutlicher die Auswirkung, wie dieses Selbst erkannt und anerkannt wird. Genauso aber beschränkt eine starke Selbstaussage den Moment, der sich "transgender" nennt auf den kurzen Zeitraum der Phase des Outings, des "Reprintings" woraus sich wiederrum schlussfolgern lässt, dass Kulturen, und Zeiten in denen die Anerkennung transsexueller Menschen grösser ist, als in anderen, diese "transgender"-Phase auch kürzer sein wird, als in den anderen (diese Phase geht im Idealfall gegen Null) - die gesellschaftliche Akzeptanz einer existenten geschlechtlichen Vielfalt zeigt sich nämlich im Selbstverständnis, wie mit dieser Vielfalt umgegangen wird.
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